Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet am Übergang vom Fische- zum Wassermannzeitalter ein neuer Himmelskörper gefunden wurde? Der Astronom Charles Kowal entdeckte am
01.11.1977 von der Sternwarte auf dem kalifornischen Mount Palomar aus den Kleinplaneten Chiron. Seine Bahn verläuft zwischen Uranus und Saturn. Aus astrologischer Sicht ist Uranus der neue und
Saturn der alte Herrscher der Zeitalter. Als Zeitalter wird die Wanderung des Frühlingspunktes durch ein Sternenbild definiert. Die Reise durch alle 12 (resp. 13 Sternzeichen) dauert rund 26’000
Jahre und wird als Pendelbewegung, Präzisionszyklus oder als Platonisches Jahr bezeichnet.
Bereits Platon beschrieb in seiner Schrift "Timaios", dass die Planeten im Laufe langer Zeiträume wieder in ihrem gemeinsamen
Anfangs- und Frühlingspunkt zusammentreffen und dabei einen Weltzyklus vollenden. Der bedeutenste Astronom seiner Zeit, Hipparchos von Nicäa, verglich
seine eigenen Berechnungen mit früheren Himmelsstudien aus Babylonischer Zeit und entdeckte eine langsame Verschiebung des Frühlingspunkts.
Die äußeren drei Planeten sind noch nicht lange bekannt. Nachdem das Fernrohr entwickelt war, konnte 1781 Uranus gesichtet werden. Uranus ist von uns doppelt so weit entfernt wie Saturn. Im November 1977 wurde der erste Kleinplanet aus der Zentauren-Familie entdeckt.
Die Wunden an Mutter Erde sind nicht mehr zu übersehen, die wir ihr durch unseren technischen und wissenschaftlichen Eifer zugefügt haben. Zweihundert Jahre „Fortschritt“ zeigen Wirkung.
Beflügelt vom Schöpferdrang und vor lauter Begeisterung über die technischen Möglichkeiten haben wir nicht bemerkt, dass die Natur leidet, weil wir aus dem Gleichgewicht gefallen sind. Wir Menschen brauchen meistens einen enormen Leidensdruck, bis wir gravierende Veränderungen vornehmen. Jetzt, zu Beginn des Übergangs ins Wassermannzeitalters, sorgt Chiron für diesen Leidensdruck, indem er uns mit den Wunden konfrontiert, die wir der Erde mit all ihren Wesen zugeführt haben.
Chiron konfrontiert uns mit Wunden, die nicht durch uns persönlich, sondern die das System verursacht hat. Die Chiron-Wunde kann nicht zum Ursprung zurückverfolgt werden, nicht nach saturnischen Methoden „abgearbeitet“ und auch nicht im gewohnten Sinne geheilt werden. Diese Wunden benötigen eine neue Art von Heilung die mit der Übernahme an Selbstverantwortung beginnt. So baut uns Chiron die Brücke von Saturn zum Reich des Uranus. Chiron und die anderen Zentauren machen uns darauf aufmerksam, dass es jenseits von Saturn andere Gesetze und andere Lösungen geben muss. Auf dieser Ebene ist alles vernetzt. Haben wir unsere Grenzen einmal überschritten, geht es nicht mehr um uns allein. Wir sind gleichwertige Menschen, ein Glied in einer endlos langen Kette: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ Unsere eigene Entwicklung ist mit der Entwicklung der Menschheit als Ganzes gekoppelt. Indem wir unsere eigene Entwicklung vorantreiben, können wir zum Mitschöpfer in dieser Welt werden.
Wir können von einem ICH-bezogenen zu einem globalen Bewusstsein gelangen. Wir sind imstande, kulturelle und soziale Prägungen zu überwinden und auf eine Ebene „jenseits von gut und böse“ zu gelangen, auf der alles seinen Platz hat und alles sein darf. Auf dieser Ebene nehmen wir uns selbst nicht mehr so wichtig, sondern begreifen uns als eines von vielen Gliedern in einer langen Kette, in Liebe verbunden mit anderen gleichwertigen und unabhängigen Menschen.
Quelle: Ulla Doubrava, ASTROLOGIE HEUTE, Nr. 121, Juni/Juli 2006
In der antiken griechischen Mythologie ist Cheiron der bekannteste und „humanste“ unter den Zentauren-Wesen und ihr Anführer. Mit dem Oberkörper eines Menschen und dem Leib eines Pferdes wurde er als Heiler, Prophet und Erzieher bekannt. Chiron ist die häufiger verwendete Schreibweise und stammt von den Römern.
Herkunft Version 1:
Chiron war der Sohn des Titanen Kronos (Saturn) und der Nymphe Philyra. Er war somit Halbbruder von Zeus, Poseidon, Hades, Hestia, Hera und Demeter. Chiron kam zu seiner Gestalt, weil Kronos sich vor der Zeugung in einen Hengst verwandelt hat, um die Beziehung zu Philyra vor seiner Gemahlin Rhea zu verbergen. Philyra verlies Chiron nach seiner Geburt, abgestossen von seinem Äusseren. Daraufhin wurde er von dem Sonnengott Apollon und der Mondgöttin Artemis (Diana) unterwiesen. Er zeichnete sich durch seine Weisheit und seine heilerischen Fähigkeiten aus. So wurde der Hässliche schliesslich zum Lehrer vieler Götter und Helden, denen er die Heilkunst und die Kriegskunst beibrachte, aber auch die Weissagung, die Jagd und die Musik.
Herkunft Version 2:
Kentauros, Sohn des Ixion, war Vater aller Zentauren. Chiron war einer von ihnen und wurde aufgrund seiner Weisheit schliesslich zu ihrem Priester oder König. Nach Robert von Ranke-Graves waren die Zentauren die kriegerischsten unter den Pelasgern von Magnesia, die das Pferd kultisch verehrten.
Indoeuropäische Reiternomaden migrierten auch in Griechenland, wo Pferde zu diesem Zeitpunkt noch fremd waren. Hat die griechische Mythologie die Erinnerungen eines schamanistischen Pferde- oder Jagdkultes bewahrt? Vielleicht wurde die Vorstellung dieser „Pferdemenschen“ zu wörtlich dargestellt.
Als Herakles sich im Kampf mit den Zentauren befand, traf einer seiner Giftpfeile versehentlich Chiron. Das Gift in der Wunde führte zu schrecklichen Qualen doch wegen seiner göttlichen Abstammung war er unsterblich. Es blieb ihm versagt, sich selbst zu heilen, obwohl er anderen immer helfen konnte. So wurde er zum "verwundeten Heiler". Seine Erlösung erlangte er, als ihm Herakles vom Schicksal des Titanen Prometheus berichtete. Der war wegen seines Aufbegehrens gegen Zeus' Willen an einen Felsen des Kaukasus gekettet worden. Jeden Tag kam Zeus' Adler und fraß an seiner Leber, doch auch er konnte nicht sterben, weil sie in der Nacht immer wieder nachwuchs. Entkommen konnte Prometheus seinem Schicksal nur, wenn einer der Unsterblichen bereit wäre, sich zu opfern und für ihn in die Unterwelt zu gehen. Chiron stimmte dem zu. Damit opferte er seine Unsterblichkeit und erlöste zugleich Prometheus von seinem Leiden. Zeus war davon so gerührt, dass er das Opfer annahm. Chiron durfte den Hades verlassen und in den Götterhimmel einkehren, wo er als Sternbild des Zentauren zu sehen ist.
In der Mythologie symbolisieren die Zentauren schon durch ihre Gestalt die Auseinandersetzung zwischen Verstand, Vernunft und Weisheit auf der einen Seite, sowie Trieb, Wildheit und Kühnheit auf der anderen. Die meisten Zentauren lebten die trieb-hafte Seite aus. Sie berauschten sich gern am Alkohol, waren hitzköpfig, vergewaltigten oder begannen Rau-fereien. Durch diesen Lebenswandel machten sie sich zahlreiche Feinde, insbesondere Herakles, der viele von ihnen tötete. Der Gegenpol zu der Masse der Triebhaften war Chiron, ein Heiler, Weiser und Lehrer der Götter.
Quelle: http://wiki.astro.com/astrowiki/de/Chiron
In der Studie von Herbert W. Jardner über Chiron und Jupiter wurde darauf hingewiesen, dass die Gestalt des Zentauren ganz eindeutig auf orientalischen Einfluss zurückgeht, und dass das Tierkreiszeichen Schütze, das den Zentaur darstellt, von den Griechen unverändert aus der babylonischen Astrologie übernommen wurde.
In seinem Kapitel über babylonische Astrologie hat Kurt Aram einen Grenzstein aus der Zeit Mardukpaliddins I. (1189-1176 v.Chr.) abgebildet. Diese Grenzsteine sind babylonische Urkunden mit besonderer Schwurkraft und erfüllen nur dann ihren Zweck, wenn sie mit der Schrift des Himmels versehen sind. Auf dem in Susa gefundenen Grenzstein des Mardukpaliddins ist der babylonische Tierkreis abgebildet.
In der indischen Mythologie sind die zentaurenähnlichen Ghandarvas aus der blutigen Vermählung der Erdmutter mit einem Pferdephallus entstanden. Der Phallus eines rituell geopferten und kastrierten Pferdes wurde begraben, um so die Fruchtbarkeit des Bodens zu erhöhen. Auch die vedischen Ghandarvas waren, wie Chiron, mächtige Magier, Heiler und Musiker, und wie die unzivilisierten Zentauren Griechenlands wegen ihrer animalischen Wildheit und Geilheit berüchtigt.
Die Mythologie Chiron bezieht sich auf einen schamanistischen Pferdekult zu einer Zeit, als solche Rituale schon nicht mehr allgemein üblich waren. Die griechische und vor allem die römische Kultur hatten bereits moderatere pädagogische Methoden entwickelt, weil das Überleben in der Natur nicht mehr höchste Priorität hatte. Chirons Art zu lehren ist eng mit seiner Pferdegestalt verbunden, die in einer tiefen Beziehung zu seiner Funktion als Schamane steht. In den prähellenischen und indoeuropäischen Kulturen galt das Pferd als Reittier des Schamanen und notwendig für seinen ekstatischen Flug. Besonders deutlich ausgeprägt ist diese Vorstellung in Sleipnir, dem achtbeinigen Pferd Odins, das die materielle Welt mit der Welt des Unsichtbaren verbindet. Der Hengst Sleipnir, den Odin im Wipfel Yggdrasills anbindet ist der Wind, auf dem Odin einher-stürmt.
Robert von Ranke-Graves erwähnt die Beziehung zwischen heiligen Pferden, der Wiedergeburt und Fruchtbar-keitsritualen in Irland und Britannien, und setzt die weisse Stute Epona, welche die vorchristlichen irischen Könige gebar, mit der pferdeköpfigen Demeter gleich. Auch in den altnordischen Kulturen Skandinaviens und Islands genoss das Pferd bei den Begräbnissen bedeutender Krieger ein hohes kultisches Ansehen. Pferde wurden verstorbenen Helden geopfert und zusammen mit ihm begraben. Die Sagas der Wikingerzeit berichten von Bäumen in Tempelhainen, an denen Pferde zu Ehren Odins aufgehängt wurden. Um Erkenntnis und Wissen zu gewinnen, opferte Odin sich selbst am Weltenbaum, der Weltesche Yggdrasill. Auf dem Weltenbaum reitend durchquert Odin alle kosmischen Ebenen (die neun Welten), steigt hinab bis in Hels Reich, verweilt vorübergehend in einer Sphäre des Zwielichts zwischen Leben und Tod. In dieser Situation werden ihm die Runen offenbar und er wird eins mit der Essenz des Kosmos.
Auch die griechische Ikonographie kennt die Verbindung von Pferd und Weltenbaum, wenn sie Zentauren mit einer Pinie in der Hand darstellt, als Symbol der Verbindung von Leben und Tod. Robert von Ranke-Graves berichtet auch, dass die Muttergottheit der Zentauren im Griechischen Leukothea (die Weisse Göttin) hiess. In Griechenland wurden sie mit der Religion der Erdmutter (Rhea, später Hera) konfrontiert, einer Herrscher-göttin, die mit einem männlichen Begleiter „Posis Das“ (Poseidon) auftrat. Sein Kult ist in Griechenland weitaus älter als der des Zeus. Aus Machtkalkül identifizierten die indoeuropäischen Einwanderer ihren Pferdegott, der ein Herr der Gewässer, der Fruchtbarkeit und der Unterwelt war, mit Posis Das. Dieser war ein erdbewohnender männlicher Geist der Fruchtbarkeit. Als solcher konnte der indoeuropäische Pferdegott ohne Schwierigkeiten mit dem Herrscher- und Fruchtbarkeitsgott Posis Das verschmelzen.
Auch in anderen vorchristlichen Kulturen Europas besitzt die Erdgöttin einen männlichen Partner und Beschützer, der oft mit animalischen Zügen dargestellt wird, wie Pan, der Grüne-, Gehörnte- oder Schwarze-Mann. In Grimms Märchen „Der Eisenhans“ tritt „Der wilder Mann“ als vollständig behaartes Wesen auf, der in einem von Menschen gemiedenen, gefährlichen Wald einen Brunnen (Quelle) hütet. Am Ursprung sind Wesen wie Der Grüne Mann, Eisenhans und Chiron wohl archaische Waldgeister und Hüter der Erde.
Wenn Robert von Ranke-Graves Recht hat, beruht der Pferdekult auf einer urzeitlichen Mysterienreligion, in der Verletzung und unheilbare Wunde zu einer Transformation junger Männer führte, die dann als Heroen ihr Leben in den Dienst der Gemeinschaft stellten. Der Name Chiron / Cheiron könnte dabei der (erbliche) Titel eines Hohepriesters (Sakralkönig) dieses Mysterienkultes gewesen sein. Spätere Generationen personifizierten Chiron als Mysterienbegründer, als Demiurg und grossen Pädagogen (Menschenfreund) und stellten ihn in einem eklatanten Gegensatz zur Wildheit der übrigen Zentauren.
Der Zentaur ist ein Bild für das Dilemma im Menschen: im Irdischen fixiert, nach den Himmeln strebend. Diesen Konflikt erlebt innerpsychisch jeder Mensch – die beiden Zentaurentypen sind die mythologischen Bilder für diesen Konflikt: Chiron repräsentiert das Bild der Spaltung zwischen Körper und Geist, aber auch deren Überwindung. Ihm gelang es, diesen Konflikt zu lösen, indem er seinen Schatten aß; den »wilden« Zentauren blieb die Transformation ihrer Persönlichkeit versagt, sie erlagen ihrem Dilemma. Nur indem Chiron aus der Ordnung fiel, folgte er dem Weg griechischer Heroen: er transzendierte seine Persönlichkeit und schuf so eine Wirklichkeit höherer Ordnung. Apollon der Gott, Chiron der Halbgott, Herakles und Asklepios die vergöttlichten Helden, und alle anderen Chiron-Schüler, repräsentieren gemeinsam sie Facetten des Heilerarchetypus in der griechischen Mythologie. Sich dieser Heilkunst zu bemächtigen, bedarf es einer Verletzung wie derjenigen, die Chiron davongetragen hat. Aus diesem Grund ist seine Wunde eine besondere Wunde. Chirons Verletzung bewirkt mehr als nur seinen Rückzug in eine Höhle auf dem Berg Pelion, wo er die Systematisierung der antiken Phytotherapie um seiner eigenen Heilung willen entwickelt haben soll.
Bevor Chiron zum grossen Pädagogen werden konnte, war er als Schamane ein gesellschaftlicher Außenseiter und musste zuerst selber lernen, was er anderen später weitergab. Erst wenn man die Perspektive in der Betrachtung des Chiron-Mythos auf diese Art erweitert, und den Blick auf die Verletzung verursachenden Mittel lenkt, auf Blut und Pfeil, verlagert sich seine Bedeutung vom zufällig verletzten Heiler zum Schamanen, der Mittel und Wege der Initiation in andere Bewusstseinszustände sucht, systematisiert, experimentell anwendet und nach erfolgreicher Verifikation als Initiationsmeister seine Schüler auf ihren Erkenntniswegen begleitet.
Sucht man in diesen Mythen nach Gestalt und Wirken Chirons, so fallen drei Phasen besonders auf: seine Verwundung, die zufällig und absichtslos erscheint, die Unheilbarkeit dieser Wunde, trotz Chirons umfassender Kompetenz als Heiler und Phytotherapeut, sowie seine Unsterblichkeit, die vom üblichen Zentaurenbild in der griechischen Mythologie abweicht. Was die Mythen aber verschweigen, bzw. einst als bekannt vorausetzten, ist die Art und Weise, in der Chiron ausbildete. Marie Luise Kaschnitz empfindet Chirons Pädagogik für den modernen Leser äusserst anschaulich nach. Was sie beschreibt ähnelt den Initiationsritualen, die Ethnographen in aussereuropäischen Kulturen untersucht haben. Arnold von Gennep und Victor Turner haben die Struktur solcher Rituale ausführlich analysiert. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die prähellenischen Griechen für ihre Einweihungsrituale eine andere Struktur bevorzugt haben:
Phase 1 Trennungsritual : die rituell zugefügte Verletzung
Phase 2 Liminalität (rituelle Absonderung): die Unheilbarkeit der Wunde, der Abstieg in die Unterwelt
Phase 3 Intergrationsritual : die Wiedergewährung der Unsterblichkeit
Chiron, Odin (der Verlust des Auges), Amfortas, Prometheus (die täglich erneut verletzte Leber) und Christus haben eines gemeinsam, ihre nicht heilende Wunde, die ihnen auf ihrer Suche nach Erkenntnis zuteil wurde. Dadurch wird deutlich, dass die nicht heilende Wunde, die Notwendigkeit der Erlösung und das Erlangen einer besonderen Art der Unsterblichkeit das verbindende Element der entsprechenden mythischen Erzählungen bildet. Chirons Mythos erzählt von einer besonderen Art der Initiation, von einer Einweihung, die der Wunde, des „Todes“ und der Wiedergeburt bedarf, um ein anderer zu werden.
Sind Menschen, deren Biographie durch Nächstenliebe und die Fähigkeit zum Mitleiden geprägt ist, die ihr Leben selbstlos in den Dienst der Gemeinschaft stellten, Leidende und Opfer, oder wurden sie zu Eingeweihten auf einem Schulungsweg, auf dem sie ihren im Materialismus wurzelnden Egoismus überwanden? Die Theorie der eigenen Erkrankung und die unter Mühen gefundene Methode der (Selbst)-Heilung, die sich auch Chiron während seiner langen Initiation erworben hat, befähigen erst zum Pädagogen und Menschheitslehrer. Heilen setzt ganz grundsätzlich die Koevolution von Leidendem und Heilendem voraus. Heilen beruht auf dem Bewusstsein, Leid nicht als naturgegeben, sondern als durch eigenes Schicksal erworben und durch eigenes Potential manipulierbar anzusehen.
Die Aufgabe des Heilers (wie des Arztes) besteht darin, die Natur einer Erkrankung zu begreifen, um mit diesem Wissen unentrinnbar erscheinende Krankheiten zu begleiten, zu beeinflussen und heilen zu können. Die Kunst der Diagnostik geht jeder Therapie voraus. Somit dient Heilung dem gesellschaftlichen Ziel, den Kranken zu einem Idealzustand von Gesundheit als das Heilsame und Beglückende zurückzuführen. Und so scheinen die besten Therapeuten gerade diejenigen zu sein, die sich ihrer eigenen Unvollkommenheit bewusst sind.
Apollon, Chiron und Asklepios repräsentieren gemeinsam den Archetypus des Heilers in der griechischen Mythologie, wobei Chiron mehr den Typus des Schamanen und Psychotherapeuten repräsentiert. Sich dieser Kunst zu bemächtigen, bedarf es einer Verletzung wie der Chirons. In seiner Einstellung zu Initiation, Ritual und (kleinem) Tod ist Chiron ein Heilerarchetypus, denn sein Umgang mit Gesundheit, Heilung und einer präventiv-ritualisierten Erziehung junger Menschen sind Grundanforderungen der Zeit, in der wir leben. Eine der Grundanforderungen unserer Zeit ist diese chironischen Haltung ihren Sitz im Leben wiederzugeben.
Die Aufforderung der chironischen Wunde gilt einem begrenzten Bereich der menschlichen Person – Chiron ist der Schattenherrscher des Schützen. Chirons Pferdeleib repräsentiert die tierische Seite und symbolisiert die Diskrepanz von innen (Innenwelt und psychische Gestalt) und außen (Außenwelt und Projektion). Die Anerkenntnis der chironischen Verletzung impliziert die Vorstellung von der Integration des Schattens, der instinktiven oder sexuellen Seite, die sich nur ausgelebt respektiert fühlt. Auch hier bietet Chiron das zugehörige Bild: Jeder Teil unserer Persönlichkeit, den wir nicht lieben, wendet sich gegen uns, so lautet seine Lehre; seine pädagogische Aufgabe besteht in der Vermittlung des richtigen Umgangs. Die jüngeren Männer darin zu unterweisen, wie Schattenmaterie handhabbar ist, ohne dass die Persönlichkeit überwältigt wird, darin lag einst die Aufgabe alter Männer, die Chiron oder Eisenhans hießen. Und noch etwas lehrt der Mythos: Zum Held der griechischen Menschheit wurde nur derjenige auserwählt, dem diese Energie gewandelt zur Verfügung stand.
Dass es wichtig ist, seinen Schatten zu integrieren, wissen wir durch C.G. Jungs Forschungen, ohne dass sich der moderne Mensch davon merkbar beeinflussen ließ. In dessen Vorstellung trennt sich weiter die obere (geistige) Hälfte des Lebens und die untere (sinnliche) Hälfte des Lebens [...]. Die erste steigt langsam immer höher, die andere, ohne Verbindung mit der oberen, sinkt immer tiefer. In seiner Höhle führt Chiron seine Schüler zu einer psychischen Ganzheit, die ihnen helfen soll, ihren Schatten zu erlösen, um das chironische Dilemma positiv zu wenden. Was Chirons Schüler in dessen Höhle erleben, gleicht einer tiefen Irritation des Ich-Welt-Verhältnisses, einer Sinnkrise, die ihr ganzes psychisches Gefüge erschüttert. Das Ziel der chironischen Initiation liegt darin, dass psychische Wunden nicht unverstanden und ungeschützt bleiben, Traumata, Verletzungen und Kränkungen zu einem gewissen Grad verarbeitet werden können. Über diese Strategien garantiert das chironische Mysterium psychotherapeutische Heilung, die nicht unempfindlich, aber unverletzlicher machen kann. Dennoch vermögen diese Wunden, ob alte oder neue, immer wieder ein Gift abzusondern, das seine Wirkung tut: die Erfahrung von Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit, die jäh und schockartig wirkt. Im Erleben und Verarbeiten dieser Vergiftung, dieser offenen Wunde, auch das lehrt uns das Chiron-Mythologem, entsteht der Freiheitsimpuls als Kern menschlicher Sehnsucht. Ins Zentrum des Heil-Seins – ins Ge-heil-igte – zu treffen, heißt in die Ur-Wunde zu treffen, an die alle sekundären, akzidentiellen Verwundungen nur erinnern.
Quelle: Vingilot – Beiträge zur Anthropologie - Das Antlitz Chiron – von Herbert W. Jardner
Wir sind Meister die noch üben
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